Denk ich an Niedersachsen, tags oder nachts, dann nicht so sehr an Wirtschaft offenbar. Oder? Kurz vor Ende des Jubiläumsjahres, in dem an die Landesgründung 1946 gedacht wird, geht es in einem jetzt erschienenen Buch um 75 niedersächsische (und bremische) Erinnerungsorte. Verschwistert ist es mit einem Band, der vor einigen Monaten ebenfalls im Wallstein Verlag herauskam und 75 für das Land wichtige Dokumente beschreibt. Nun also die Orte – und, um das gleich zu sagen, ein wirklich schönes Buch, das viel dazu beiträgt, an einer selbst im Landtag von manchem vermissten niedersächsischen Identität zu bauen. Und das durchaus im Spannungsfeld mit Westfalen. Denn es beginnt mit der Varusschlacht und deren langsamer Nordwest-Wanderung aus dem westfälisch-lippischen Detmold – Hermannsdenkmal – ins niedersächsische Kalkriese. Dort vermutet man sie heute, nördlich von Osnabrück, der zweiten Stadt des westfälischen (!) Friedens. Gut, damit ist Münster schon angesprochen – der wohl bekannteste Bischof der, sagen manche, schönsten Stadt Westfalens, Clemens August von Galen, hat es mit seinen niedersächsischen Wurzeln ins Buch geschafft. Und was ist mit dem weißen Pferd auf rotem Grund, das sowohl Niedersachsen als auch Westfalen im Wappen führen? Auch darum geht es, und um die Weser, Hannovers Schützenfest und den Maschsee, Einbecker Bier, um den Hildesheimer Rosenstock, Schaumburger Tracht, den Rattenfänger. So viele Möglichkeiten aus der reichen Geschichte nicht nur eines Landes, sondern vielmehr einer Region. Und nichts liegt uns ferner als diese Auswahl zu kritisieren. Aber …

… wir wären nicht ein Wirtschaftsmedium, wenn uns nicht doch etwas auffiele. Genau: die Unternehmen. Klar, VW kommt vor, und vielleicht kann man diese Riesengeschichte auf begrenztem Raum gar nicht anders erzählen als über den Roman „Die Autostadt“ von 1951. Zuckerfabriken sind ein Thema, und man liest eine richtig schöne Beschreibung der hannoverschen Konsumgenossenschaft und ihrer Einbettung in die Arbeiterkultur. Aus gleichem Blickwinkel wird die faszinierende Lindener Industriegeschichte betrachtet. Wirtschaft kommt also vor. Unternehmen auch – aber irgendwie, so wirkt es, immer etwas am Rand, mit spitzen Fingern angefasst. Schließlich ist zum Beispiel eine Konsumgenossenschaft, so verdienstvoll und lesenswert das Kapitel ist, nur ein Zweig des vielfältigen, bis heute blühenden Genossenschaftswesens. Das soll aber keineswegs Kritik an einem wirklich gelungenen Buch sein, sondern eher eine Anregung. Fürs nächste Mal. Themen gibt es ja genug. Die Geschichte des Lindener Industriedreiecks zum Beispiel bietet noch so viel mehr Perspektiven. Aber die Qual der Wahl zu haben heißt ja auch, dass es noch viel zu erzählen gibt. Das reicht locker für 100 Beiträge. Und um auf den ersten Satz dieses Beitrags zurückzukommen: Auch Heinrich Heine hat es mit seiner wundervollen Harzreise und seinen westfälisch-göttingischen Verbindungen nicht ins Buch geschafft. (pm)

Geschichte und Erinnerung in Niedersachen und Bremen: 75 Erinnerungsorte. Von Henning Steinführer und Gerd Steinwascher. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 512 Seiten, 39 Euro. ISBN 978-3-8353-3872-2.

Ursprünglich als Wirtschaftspolitisches Streiflicht, später in einer eigenen Rubrik „Streiflichter“: Glossen begleiten die Niedersächsische Wirtschaft von Anfang an und hatten schon in Vorgänger-Publikationen ihren Platz. An dieser Stelle finden Sie jeden Freitag eine Glosse in dieser Tradition.

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