Von Klaus Pohlmann
Die Rezeptprüfstelle Duderstadt setzt auf Künstliche Intelligenz und hat gemeinsam mit Forschenden einen lernfähigen Algorithmus für bestimmte Prozessschritte entwickelt.

Wer sich 1948, als die Rezeptprüfstelle Duderstadt gegründet wurde, für Science-Fiction begeisterte, wäre heute weniger überrascht von den Entwicklungen. Über Jahrzehnte stand im Duderstädter Unternehmen die Prüfung von Rezepten im Vordergrund – durch Fachkräfte, „meist von Apothekenhelferinnen sowie vorgeprüften Apothekerinnen“, wie es in einem frühen Zeitungsartikel heißt: Wurde in der Apotheke das abgegeben, was verschrieben wurde und nach den einschlägigen Vorgaben richtig ist? Heute ist die Rezeptprüfstelle darüber hinaus ein Dienstleister für Apotheken oder Krankenkassen, etwa bei der Zahlungsabwicklung. Die Prüfung von Rezepten ist aber nach wie vor ein großer Bereich. Und genau dabei spielt Künstliche Intelligenz eine Rolle.
Der Erfolg der KI-Lösung in der Rezeptprüfstelle lässt aufhorchen: Fast 50 Prozent an manueller Arbeitszeit werden durch ihren Einsatz eingespart – und zwar im Zusammenspiel mit den Mitarbeitenden der Rezeptprüfstelle, betont Geschäftsführer Robert Schmidthals, Enkel des Firmengründers Dietrich Schmidthals. Der hatte gemeinsam mit seinem Apothekerkollegen Hans Düro das Unternehmen vor ziemlich genau 75 Jahren aus der Taufe gehoben: Im August wurde Jubiläum gefeiert.

Der Algorithmus, der in den vergangenen Jahren entwickelt wurde, übernimmt dabei nicht die Prüfung der Rezepte selbst. Sondern sucht die Rezepte aus, die geprüft werden – mit dem Ziel, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, fehlerhafte zu erwischen. Was wurde verschrieben, was abgegeben? Wann und wo wurde das Rezept ausgestellt und eingelöst? Selbst der Wochentag kann wichtig sein. Und ändern sich beispielsweise gesetzliche Vorgaben, steigt die Wahrscheinlichkeit fehlerhafter Rezepte. „Dann ist der Prüferfolg besonders groß“, so Schmidthals. Ergebnis: Bei gleicher Zahl von Prüfungen einen um 15 Prozent höheren Erfolg. Sagt Vanessa Schneider, die im Unternehmen für die Prüfprozesse zuständig ist. Dabei lernt die Software dazu, die Trefferquote steigt. Dieses maschinelle Lernen, Machine Learning, ist ein wesentlicher Aspekt Künstlicher Intelligenz. Das KI-Projekt „hat sich schon jetzt sehr, sehr gelohnt – mehr als erwartet“, meint Robert Schmidthals.

Um die Daten nutzen zu können, braucht man sie zunächst digital. Optische Texterkennung, Optical Charakter Recognition oder kurz OCR: Eigentlich ein Nebenthema im Projekt, sagt Professor Dr. Simon Trang. Aber zunächst war es wichtig, alle Informationen auf einem Rezept zu erfassen – bis zu den sprichwörtlich schwer lesbaren Unterschriften.

Ein Beispiel für Wissenstransfer

Simon Trang ist Professor für Wirtschaftsinformatik an der Uni Paderborn und leitet die Forschungsgruppe für Informationssicherheit und Compliance an der Uni Göttingen. Auch Trang und seinen Mitarbeitenden war das Business Engineering Institute St. Gallen im Boot. Die KI-Entwicklung für die Rezeptprüfstelle ist sicher auch ein Musterbeispiel für die Zusammenarbeit von Forschung und Wirtschaft. Interesse an der Zusammenarbeit mit Hochschulen hat Robert Schmidthals seit langem. Auch die Idee, KI in der Prüfung einzusetzen, entstand schon vor rund fünf Jahren. Zum aktuellen Projekt führte ein Praxisforum der IHK Hannover mit Kontakten zunächst zur Uni Göttingen. Im April dieses Jahres übernahm Trang den Lehrstuhl in Ostwestfalen.

Eine wesentliche Erkenntnis Trangs, die im Projekt mit der Rezeptprüfstelle zum Tragen kam: Die Monate, die für Bachelor- oder Masterarbeiten zur Verfügung stehen, reichten für den Wissenstransfer in diesem Fall nicht aus. Umgesetzt wurde die KI-Lösung in Duderstadt im Rahmen einer Dissertation. Zunächst ging es darum, so Simon Trang, die Prozesse zu verstehen und zu erkennen, was überhaupt gebraucht wird: „Was hilft dem Unternehmen?“ Zu wissen, welche Daten überhaupt vorhanden sind (und welche nicht), und wie man sie digitalisiert. Entwicklung, Training, Einführung der KI – insgesamt dauerte das rund drei Jahre. „Und war ungefähr so teuer, als ob wir einen Vollzeit-Informatiker über drei Jahre beschäftigt hätten.“ Der hätte sich, meint Robert Schmidthals, aber niemals allein auf dieses Projekt konzentrieren können. Seine Einschätzung der Zusammenarbeit mit der Wissenschaft ist klar: „Wir würden das in dieser Form wieder machen.“

Die Nase vorn haben

Schneller sein als der Wettbewerb: Das treibt Schmidthals schon immer an. Der 55-Jährige ist Wirtschaftsingenieur wie bereits sein Vater. Nur in der Gründergeneration seines Großvaters standen Apotheker an der Spitze des Familienunternehmens. Wenige Wochen nach Einführung der D-Mark, noch vor Gründung der Bundesrepublik und vor den Wirtschaftswunderjahren, boten Dietrich Schmidthals und Hans Düro der AOK in Duderstadt die pharmazeutische Prüfung von Rezepten an. Das wurde dann nach und nach auf weitere Kassen ausgedehnt. Heute hat die Rezeptprüfstelle deutschlandweit rund 100 Kunden in verschiedenen Vertragskonstellationen. Rund eine Handvoll privater Prüfstellen kennt Schmidthals. Andere sind den Verbänden angegliedert.

In den 90er Jahren beschäftigte das Duderstädter Unternehmen rund 160 Menschen – der Höchststand. Damals wurden auch die Abrechnungen sonstiger Leistungserbringer im Gesundheitswesen geprüft, also etwa in der häuslichen Krankenpflege, im Bereich der Krankentransporte oder bei Hebammen. Heute liegt die Zahl der Mitarbeitenden bei etwa 70. Sie kümmern sich um rund zehn Millionen Rezepte pro Jahr. Alles wird digitalisiert, abhängig vom Vertrag mit der jeweiligen Krankenkasse werden 10 bis 50 Prozent geprüft – jetzt unterstützt durch KI. Sollte dadurch Personal eingespart werden, dann über natürliche Fluktuation, macht Robert Schmidthals deutlich.

Obwohl selbst Teil des Geschehens, zeigt sich Schmidthals überrascht, mit welcher Geschwindigkeit Künstliche Intelligenz gerade Einfluss auf die Wirtschaft gewinnt: „Man wird rechts und links überholt, wenn man sich nicht mit KI beschäftigt.“ Und der nächste Schritt der Digitalisierung klopft bereits an. 2024 kommt das E-Rezept – allerdings rechnet Schmidthals zunächst mit einem Anteil der digitalen Verschreibungen unter zehn Prozent. Wenn diese Vorstellung nur nicht so abgedroschen wäre: Man würde doch zu gerne die Gesichter der Gründer sehen angesichts dieser ungeheuren Dynamik. Allerdings waren sie ja vielleicht doch Science-Fiction-Liebhaber. Und gar nicht so überrascht von dem, was heute ihr Unternehmen – und die Wirtschaft insgesamt – vorantreibt.

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