Was Ende der 60er Jahre als Garagenwerkstatt eines Abiturienten mit Faible für Fotografie und Gestaltung begann, ist heute einer der weltweit renommiertesten Verlage für ästhetische und hochwertig hergestellte Bücher: Steidl aus Göttingen.

Düstere Straße 4 in Göttingen: Das schmale, unscheinbare Haus mit dem dezenten Türschild ist seit 1968 Sitz des Steidl-Verlags. Gerhard Steidl hat bis heute rund 6500 Bücher mit Schwerpunkt Belletristik, Sachbuch und Fotografie verlegt. Plus etwa 4000 Bücher im Kundenauftrag, beispielsweise für den französischen Modekonzern Chanel oder die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden.

Ein Lieblingsbuch hat Gerhard Steidl nicht. „Das beste Buch ist das, was ich gerade gemacht habe, gefolgt von dem nächsten Buch, das man macht“, erklärt der 71-jährige Drucker und Verleger. Dennoch gibt es für ihn besondere Bücher. Etwa das Fotobuch „The Americans“ von Robert Frank. „Das Buch ist 1956 auf den Markt gekommen und die Blaupause eines modernen Fotobuchs. Die Fotos erzählen die Geschichte selbst – ohne Texte“, erzählt Steidl. Oder Willam Egglestons „The Outlands“. „Über diese Bücher habe ich die USA wesentlich besser kennengelernt als durch eine Reise.“ Auch der Band „Du. Ja Du. Liebesgedichte“ von Günter Grass hat für ihn eine besondere Bedeutung. Der Nobelpreisträger wechselte 1993 zu Steidl und gehört wie sein isländischer Kollege Halldór Laxness zu den Autoren des Verlags.

Das Frühjahrsprogramm wurde von der Spanierin Paloma Tarrio Alves illustriert.

„Wir machen pro Jahr etwa 120 Fotografiebücher und bildende Kunst, dazu etwa 30 Bücher mit literarischen Titeln“, erklärt Claudia Glenewinkel, im 42-köpfigen Verlagsteam zuständig für Presse und Lektorat. „Die visuellen Bücher sind grundsätzlich englischsprachig und gehen in den Export.“ Der Verlag hat eine große Fangemeinde im Ausland und Zehntausende Follower in den sozialen Medien. Privatkunden können bei Steidl online bestellen, wenn keine Buchhandlung in der Nähe ist. Über ein eigenes Versandzentrum werden die Bücher weltweit kostenfrei versandt. „Wir liefern in jedes Land spätestens drei Tage später – egal, wo auf der Welt“, so Claudia Glenewinkel. Die Auslieferung wird intern abgewickelt, und das hat einen Grund: „Die Steidl Book Culture soll sich auch im Paket niederschlagen. Wir machen das sehr liebevoll. Es kommt immer eine kleine Karte mit einem Gruß rein oder ein kleines Geschenk.“ Aber auch beim Buchhandel will man auffallen. Die Programme werden mit viel Liebe zum Detail und festem Einband produziert.

Wie Steidl arbeitet, vermittelt eindrücklich der preisgekrönte Dokumentarfilm „How to make a book with Steidl“ (2010). Jörg Adolph und Gereon Wetzel haben den Verleger dafür ein Jahr lang in Göttingen und bei seinen Reisen in die USA begleitet. Das „organisierte Chaos im täglichen Arbeits-Workflow“ wurde in einem 90-minütigen Film festgehalten. Der Film zeigt: Die Zusammenarbeit mit Autorinnen und Autoren sowie Künstlerinnen und Künstlern und Steidl ist eng und intensiv. Die Räume im Verlag werden dem gerecht: Die oberste Etage des viergeschossigen Verlagshauses ist als kreativer Bereich mit einer geräumigen Bibliothek mit großem Arbeitstisch, Küche und Esszimmer ausgestattet. In den beiden Stockwerken darunter werden Bücher layoutet, Bilder bearbeitet, Seiten geplottet. Im Erdgeschoss befinden sich die Papier- und Farblager und die Sechs-Farben-Druckmaschine. Im Nebengebäude hat Steidl sechs Apartments eingerichtet, in denen die Künstlerinnen und Künstler während des Entstehungs- und Gestaltungsprozesses ihrer Werke wohnen können.

Lektorat, Herstellung, Plattenbelichtung, Druck, Fine Art Printing, Vertrieb, Versand. Bis auf die buchbinderische Verarbeitung laufen alle Prozesse im Hause Steidl ab. „Wir haben die volle Kompetenz über den Herstellungsprozess, jeder Schritt wird dokumentiert. Das bedeutet, dass wir hier quasi keine Fehlproduktion haben“, so Steidl. Der Verlag ist 100 Prozent FSC-zertifiziert. Alles, was im Haus ist, wird zu 100 Prozent recycelt. Um das Verlagshaus hat Gerhard Steidl im Laufe der Zeit eine Art kleines Quartier rund um Buch und Kunst geschaffen: Seit 2015 ist das Göttinger Grass-Archiv, das die fast dreißig Jahre dauernde Zusammenarbeit zwischen dem Künstler und dem Verlag dokumentiert, direkter Nachbar. In Haus Nummer 7 ist auf Initiative von Gerhard Steidl als Privatperson in einem Stadtentwicklungsprozess das Kunsthaus Göttingen entstanden. Das Ausstellungshaus für Arbeiten auf Papier, Fotografie und neue Medien wurde im Sommer 2021 eröffnet und zeigt aktuell Fotografien, Radierungen und Grafiken aus Südafrika.

Gerhard Steidl im Gespräch mit Michael Wüthle
„Confidential“). Foto: Emilia Hesse/Steidl Publishers.

Gerhard Steidl hat 2020 den Gutenberg-Preis der Internationalen Gutenberg-Gesellschaft für hervorragende künstlerische, technische und wissenschaftliche Leistungen auf dem Gebiet der Druckkunst erhalten. Die Royal Photographic Society hat seine „bedeutende Leistung als Verleger zeitgenössischer Fotobücher und eines umfangreichen deutschen Literaturprogramms, und als Kurator internationaler Ausstellungen“ mit dem Photographic Publishing Award 2021 gewürdigt. Niedersachsen hat Steidl 2021 das Große Verdienstkreuz verliehen. Die Bundesregierung hat den Verlag im gleichen Jahr mit dem Deutschen Verlagspreis für Jahresumsätze von mehr als 3 Mio. Euro ausgezeichnet.

Die Druckmaschine im Erdgeschoss des Verlagsgebäudes. Foto: Emilia Hesse/Steidl Publishers.

In Kürze wird die Druckmaschine in der Düsteren Straße 4 ausgetauscht. Bei den baulichen Gegebenheiten eine besondere Herausforderung. Gerhard Steidl freut sich darauf.

 

 

 

Seit 53 Jahren … Gerhard Steidl richtete nach seinem Abitur in einer Garage in Göttingen eine Siebdruckwerkstatt für Druckgrafik und Plakate ein. 1968 gründete er seinen eigenen Verlag. 1970 begann die Zusammenarbeit mit Klaus Staeck. Zwei Jahre später erschien mit „Befragung der documenta“ das erste Buch im Steidl-Verlag. Zunächst lag der Fokus auf politischen Sachbüchern. Anfang der 80er Jahre folgten Literatur, Kunst- und Fotografiebände. Seit 1989 wird ein Taschenbuchprogramm verlegt. Einen Meilenstein in der Verlagsgeschichte markierte der Wechsel von Günter Grass zu Steidl. Seit 1993 hält der Verlag die Weltrechte am Werk des Nobelpreisträgers. Im gleichen Jahr begann auch die Zusammenarbeit mit Karl Lagerfeld. 1996 entschied sich Steidl, sein Gespür und seine Leidenschaft für Fotografie in einem eigenen Fotobuchprogramm umzusetzen. Seitdem verlegt er Bücher internationaler Fotografen wie Robert Frank, Joel Sternfeld, Richard Serra, Bruce Davidson, Edward Ruscha, Susan Meiselas, Lou Reed, Martin Schoeller oder Jeff Wall. Darüber hinaus konzipiert und kuratiert Gerhard Steidl weltweit Fotografieausstellungen.

 

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