Die Idee der Industrie 4.0 ist ein Gemeinschaftswerk. Unter ihren Vordenkern hatte Wolfgang Wahlster als erster die Chance, den Begriff in die Öffentlichkeit zu tragen – und nutzte sie. Der KI-Experte ist der Hannover Messe verbunden und will auch in diesem Jahr dabei sein.

NW: Herr Professor Wahlster, Sie gehören zu den Vätern des Begriffs Industrie 4.0, der seit mehr als zehn Jahren der Name für digitale Transformation vor allem der produzierenden Wirtschaft ist. Und Sie haben diesen Begriff bei der Eröffnung der Hannover Messe 2011 erstmals in eine breite Öffentlichkeit getragen. Haben Sie damals die Messeeröffnung mit ihrem hochkarätigen Publikum aus Wirtschaft und Politik bewusst dafür gewählt?
Wahlster: Am 1. April 2011 hatte ich zusammen mit den Kollegen Lukas und Kagermann das erste Papier zu “Industrie 4.0: Mit dem Internet der Dinge auf dem Weg zur vierten industriellen Revolution“, als Namensartikel in den VDI nachrichten,
Nr. 13 in einer Auflage von 170 000 Exemplaren publiziert. Diese Ausgabe wurde zur Eröffnung der Hannover Messe 2011 verteilt. Am 3. April 2011 fand dann die Messeeröffnung statt, bei der ich als Jury-Vorsitzender zehn Minuten auf der großen Bühne zusammen mit der damaligen Bundesforschungsministerin Schavan den Preisträger für den Hermes Award vorstellen durfte. Ich nutzte diese Chance, vor den zahlreichen Entscheidern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik erstmals öffentlich den Beginn der vierten industriellen Revolution auszurufen und das dahinter stehende Konzept Industrie 4.0 in wenigen Sätzen vorzustellen.
Ich habe laut meinem damaligen Redemanuskript folgende Formulierung benutzt: „Sich als Produktionsstandort auch in einer Hochlohnregion behaupten zu können, wird zunehmend zu einer Schlüsselfrage im globalen Wettbewerb. Im Gegensatz zu anderen Industrieländern ist es Deutschland in den letzten 10 Jahren gelungen, die Anzahl der Beschäftigten in der Produktion weitgehend stabil zu halten. Produktionsstandort bleiben heißt heute, sich fit zu machen für die vom Internet getriebene vierte industrielle Revolution. Durch das Internet der Dinge entsteht eine Brücke zwischen virtueller und dinglicher Welt. In der Industrie führt dieser Ansatz zu einem Paradigmenwechsel. Das entstehende Produkt selbst steuert seinen Produktionsprozess, überwacht über die eingebettete Sensorik die relevanten Umgebungsparameter und löst bei Störungen entsprechende Gegenmaßnahmen aus – es wird gleichzeitig zum Beobachter und zum Akteur. In der Promotorengruppe Kommunikation der Forschungsunion Wirtschaft-Wissenschaft der Bundesregierung haben wir Frau Bundesministerin Prof. Schavan das Zukunftsprojekt Industrie 4.0 vorgeschlagen. Das Zukunftsprojekt wurde mittlerweile verabschiedet, mit der Umsetzung haben Wirtschaft, Wissenschaft und Politik bereits begonnen.“

Wie war 2011 die Resonanz? Und hätten Sie mit einer solchen Ausstrahlung von Industrie 4.0 über ein ganzes Jahrzehnt hinweg gerechnet?
Da die Bundeskanzlerin in ihrer nachfolgenden Rede spontan meine Ankündigung von Industrie 4.0 aufgriff und mich zitierte, war die Resonanz auf dem anschließenden VIP-Empfang überwältigend. Ich war ständig umringt von Industrieführern und Journalisten, die alle riesiges Interesse an diesem Thema hatten. Natürlich gab es auch Bedenkenträger, aber die waren schon 2011 in der Minderheit und wurden dann auf den nächsten Messen nach den ersten praktischen Erfolgen auch zu Unterstützern.
Uns war klar, dass eine solche vierte industrielle Revolution nicht nur ein Jahrzehnt anhält, sondern mindestens zwei Dekaden braucht, bis alle bestehenden Fabriken auf Industrie 4.0 umgestellt sind.

Wie schätzen Sie die Bedeutung der Hannover Messe als Schaufenster und Drehscheibe für Innovationen ein – aktuell, aber auch mit Blick auf die lange Geschichte der Messe?
Zweifellos wurde die Hannover Messe rasch zum internationalen Treffpunkt für Industrie 4.0. In allen Hallen spielte das Thema eine immer größere Rolle – bis heute. Das Konzept „Industrie 4.0“ wurde nicht zuletzt auch durch die Hannover Messe zum deutschen Exportschlager. Ähnlich wie „Autobahn“ und „Kindergarten“ wird es weltweit inzwischen als deutsche Erfindung erkannt und selbst in chinesischen und amerikanischen Publikationen mit „ie“ und nicht mit „y“ für Industrie geschrieben.
Die Hannover Messe hat immer wieder große Demonstrationsanlagen und teilweise sogar komplette Smart Factories von Forschungsverbünden und führenden Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus als Reallabore vorgeführt. Nur durch das praktische Erleben von Industrie 4.0 in den Hallen der Hannover Messe haben sich immer mehr ausländische Unternehmen für diese Konzept entschieden und die vierte industrielle Revolution in ihren Heimatländern gestartet.

Fast eine rhetorische Frage: Wie wichtig ist es für eine Region, vor der Haustür eine Veranstaltung zu haben, die regelmäßig weltweit Innovationen anzieht und den Stand der Technik präsentiert?
Das ist für Hannover, Niedersachen aber auch für die gesamte Bundesrepublik eine Veranstaltung, die letztlich indirekt viele Milliarden des Bruttosozialproduktes sichert und Hunderttausende von Arbeitsplätzen schafft oder erhält. Durch Videokonferenzen und reine Internetpräsentationen kann die praktische Anschauung, der eigene Test und die kritische Diskussion mit Technikern vor Ort nicht ersetzt werden.

Lauten Jubel bei Messeeröffnungen gibt es seit 2004 immer wieder, seit nämlich der Hermes Award als Innovationspreis verliehen wird. Sie waren über viele Jahre Jury-Chef. Kennen Sie eigentlich noch einen vergleichbaren Preis, bei dem Neuentwicklungen in der Industrie so ins Rampenlicht gestellt werden?
Nein, der Preis war und ist in dieser Form weltweit einmalig. Bedauert habe ich aber, dass die Zeit zur Vorstellung der innovativen Ideen bei der Eröffnungsveranstaltung von Jahr zu Jahr immer kürzer wurde.

Gibt es einen Preisträger des Hermes-Award, der Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben ist?
Ich war von 2005 bis 2018 Vorsitzender der Jury des Hermes Awards und habe immer auf der Eröffnungsveranstaltung die Jury-Entscheidung erläutert und zusammen mit der jeweils amtierenden Forschungsministerin den Preis verliehen. Alle Preisträger waren natürlich durch unseren sehr aufwändigen, mehrstufigen Selektionsprozess nach einem über viele Jahre entwickelten Evaluationsschema absolut würdige Sieger. Ich verfolge immer noch die weitere Entwicklung aller Preisträger in meiner Ära als Jury-Vorsitzender. Für Industrie 4.0 war 2016 die Firma Harting mit ihrer MICA – Modular Industry Computing Architecture – ein ganz besonderer Meilenstein, weil mit solchen Systemen die Ära des Edge-Computing und das Retrofitting bestehender Fabriken eingeläutet wurde.

Der Krieg in der Ukraine verändert nahezu alles: Wie ist aus Ihrer Sicht die weltweite industrielle Forschungszusammenarbeit betroffen?
Leider hat das schon zu ersten Auswirkungen auf die Kooperation vor allem mit russischen Wissenschaftlern geführt. Auch bei der Kooperation mit China gibt es bereits Einschränkungen wegen dessen Enthaltung bei der Abstimmung bei der Russland-Resolution im UN-Sicherheitsrat. Forschende bilden aber weltweit eine Fachgemeinschaft und wir brauchen alle, um Innovationen voranzubringen. Daher beurteile ich ein Ende der Forschungszusammenarbeit stets kritisch, aber sehe ein, dass es bei anwendungsnaher Forschung rote Linien geben muss, wenn diese auch für militärische Zwecke oder Einschränkungen der individuellen Freiheit der Bevölkerung durch Diktatoren genutzt werden kann.

Nach zwei Jahren wieder eine Hannover Messe vor Ort: Werden Sie dabei sein?
Selbstverständlich JA! Zusammen mit den Kollegen Lukas und Kagermann plane ich am ersten Tage eine Diskussionsrunde zum Status und den nächsten zehn Jahren von Industrie 4.0 in der Forschungshalle. Ich freue mich schon riesig auf die Messe – nach zwei Jahren auf „Entzug“.

Zur Person Professor Dr. Wolfgang Wahlster (69) ist Informatiker, Spezialist für Künstliche Intelligenz sowie als Wissenschaftler und Hochschullehrer vielfach ausgezeichnet. Bis 2019 stand er an der Spitze des Deutschen Forschungszentrums für Künstliche Intelligenz. Zusammen mit Henning Kagermann und Wolf-Dieter Lucas entwickelte er die Idee einer vierten Industriellen Revolution, die seit 2011 als Industrie 4.0 auch die Hannover Messe prägt.

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