Corona hat die Fragen nach der Zukunft der Innenstädte noch einmal dringlicher gemacht. Unter den Faktoren, die Zentren lebendig und zukunftsfähig machen, spielen aus Sicht vieler Kultur und Unterhaltung eine wichtige Rolle. Die Diskussion läuft. Es gibt aber auch bereits einiges an Erfahrung.

Wird jemand, der sich mit der Zukunft der Innenstädte beschäftigt, mitten in der Nacht geweckt und soll spontan sagen, was neben Handel und Gastronomie in Zukunft die Zentren prägt, wird man hören: Wohnen. Arbeit. Klima. Außerdem dürfte, vielleicht wegen Schlaftrunkenkeit etwas undeutlich, auch das Wortungetüm Aufenthaltsqualität nicht fehlen. Und die ist eng verbunden mit: Kultur. Bei einer Online-Diskussion des  Niedersächsischen Regionalministeriums im September 2021 verfolgte Professor Dr. Julius Heinicke von der Uni Hildesheim den Zusammenhang von Kultur und Stadt durch die Geschichte. Theater und Museen verortet Heinicke beispielsweise als Ausdruck des  Bürgertums, wichtig für dessen Selbstverständnis. In Hannover etwa stecken das  Opernhaus, das Schauspielhaus und das Künstlerhaus den Claim eines geplanten  Kulturdreiecks mitten in der Stadt ab. Was in dieser Umgebung dann angeboten wird, steht noch nicht fest. Bühnen und Ausstellungsmöglichkeiten, so heißt es, werden  diskutiert. Kultur auf die Straße zu bringen, in den öffentlichen Raum, dürfte dabei auch ein Thema sein. Laura Berman, Intendantin der Staatsoper Hannover, sprach das in einer von der Volkswagenstiftung organisierten Diskussion im Herbst letzten Jahres an. Zur  Gesprächsrunde gehörten dabei auch der Soziologe Dr. Volker Kirchberg, der Stadtplaner Dr. Lech Suwala und der Architekt Stephen Craig, allesamt Professoren. Ein zentraler Punkt: Wie werden öffentliche Räume – wieder – lebendig? Plätze als Schau-Plätze, der Markt als Bühne: Geht man mit dem Hildesheimer Julius Heinicke in der  Beziehungsgeschichte von Kultur und Stadt sehr weit zurück, dann findet man genau so etwas im Mittelalter. Zufall oder nicht: In Bad Gandersheim bietet die Stiftskirche eine mittelalterliche Kulisse für die Domfestspiele, die im kommenden Sommer in ihre 64. Spielzeit gehen – mit einem keineswegs mittelalterlichen Programm, auf dem der Graf von Monte Christo, einem Abba-Konzertabend oder das Musical My Fair Lady stehen.
Vielleicht ist die Stadt Hameln, deren ebenso prägendes wie traumatisches Erlebnis ins Mittelalter weist, ein besonders pralles Beispiel sowohl für das, was man History Marketing nennt, als auch die Einbindung von Kultur. Wir schreiben das Jahr 1284, der Rattenfänger ist in der Stadt. Das ist bis heute so geblieben. Aber vom Pfeifer, der den Menschen  damals so viel nahm, hat sich Hameln inzwischen eine ganze Menge zurückgeholt. Vor   etwa 25 Jahren war von Kultur als belebendem Faktor für die Innenstädte noch keineswegs so die Rede wie heute. Jedenfalls nicht ausdrücklich. Zudem war das beherrschende Thema jener Tage in und um Hannover die Weltausstellung Expo 2000. Natürlich auch ein Kulturereignis. Bei der damals noch jungen Hameln Marketing und Tourismus GmbH – sie wurde 1997 gegründet – suchte man nach einem Expo-Beitrag. Und fand das Musical Rats! von Nigel Hess und Jeremy Browne. Kostenfrei
für die Besucherinnen und Besucher sollte es sein, auf der Bühne mitten in der Stadt zwischen Hochzeitshaus und Münster wie die Rattenfänger-Freilichtspiele auch. Die haben in der heutigen Form ihre Wurzeln in den 50er Jahre, werden immer sonntags aufgeführt
– und sollten durch die moderne Musical-Variante keinesfalls Konkurrenz bekommen. Eigentlich war Rats! für eine Spielzeit im Expo-Jahr 2000 gedacht. In diesem Jahr ging die 22. Saison über die Bühne, immer am Mittwochnachmittag etwa 45 Minuten mitten in
der Geschäfts- und Fußgängerzone, in der ersten Saison öffentlich finanziert, dann aber immer über Sponsoren aus der Wirtschaft. Und die Zukunft? Es läuft, solange es läuft, heißt es in Hameln. Dem punkigen Muscial-Rattenkönig kann man auch eine Stadtführung folgen – und dort, selbstverständlich, auf den Rattenfänger stoßen. Dass der in der Stadt unterwegs ist, überrascht natürlich nicht. Zur 725-Jahr-Feier der Sage 2009 allerdings wagte man sich an etwas Neues und betonte die dunkle Seite der Sagengestalt:  Geheimnis, Magie, Verführung – düster, ein Erscheinungsbild ganz in grau und mit einer ziemlich furchteinflößenden Ratte als zentralem Bildmotiv. Gewagt für ein Jubiläum. Aber Teil der Strategie, zu der auch Rats! passt: Die weltweit bekannte Gestalt des  Rattenfängers für neue und jüngere Zielgruppen zu erschließen. Und aus heutiger
Sicht auch etwas, das an Diskussionen anschließt, wie sie zum Beispiel bei der  Volkswagenstiftung geführt wurden: In die Stadt gehen, um etwas – Neues – zu erleben. Wobei der verführte Verführer bis heute, noch Jahre nach dem Jubiläum, abends durch die Stadt führt. Mit der düsteren Kampagne war Hamelns Marketinggesellschaft auch für den Deutschen Tourismuspreis nominiert.Wenige Jahre später schaffte es die Stadt dann mit einem anderen Kulturprojekt auf einen dritten Platz. Licht am Fluss, das Jubiläum des Hamelner Münsters St. Bonifatius, bildete den Ausgangspunkt. Der historischen Verbindung zwischen Hameln und Fulda folgend, stieß man weseraufwärts in der hessischen Stadt erneut auf ein Musical: Die Päpstin – klar, wieder Mittelalter. Harald  Wanger, Geschäftsführer von Hameln Marketing und Tourismus, holte die Produktion der Spotlight Musical GmbH im Sommer 2012 ins Stadttheater. Die Verbindung hält bis heute: In wenigen Tagen startet das Musical „Robin Hood“, an dem Chris de Burgh  mitgeschrieben hat. Dessen internationale Bekanntheit gründet in einer Reihe von Hits vor allem in den 80er Jahren. Gerade erst war er mit einer Tournee unterwegs, in der Robin Hood ebenfalls  eine Rolle spielte, wobei auch schnell Hameln ins Spiel kam. Glück muss man haben. Wie bei einem anderen Musikstar auch: Um kurz vor der Jahrtausendwende ein neues Stadt-Logo zu finden, fragten die Hamelner für die Jury ins Blaue Ian Anderson an, Rockmusiker, Flötist, Kopf der von ihm geprägten Band Jethro Tull und wegen seines Instruments und seiner Bühnenshow gerne in die Nähe des Rattenfängers gerückt. Aus der Jury-Beteiligung wurden mehrere Jahre mit Konzerten in der Stadt, unter anderem mit dem Start einer Europa-Tournee 2001. Gesucht ist dabei immer der Bezug zur Innenstadt. Aus dem Sommertermin des jeweiligen Spotlight-Musicals ist bereits vor einigen Jahren eine Winterspielzeit geworden: Das ergänzt sich mit dem Hamelner Weihnachtsmarkt. „Wir haben uns da gefunden“, sagt Wanger, über Versuch und Irrtum. Das Open-Air-Musical Rats ist in die Nach-Corona-Kampagne „Komm wie du bist“  einbezogen, die ebenfalls mit Kultur, aber ebenso mit Spiel- und Sportangeboten die Innenstadt wieder beleben helfen soll und offenbar gerade auch jüngere Menschen  erreicht. Und ebenfalls die Jury des Frankfurter Travel Industry Clubs, die im September das Stadtmarketing-Team um Dennis Andres mit ihrem Destination Award auszeichnete.
Menschen mit Kultur in die Stadt holen: Derzeit, so Tourismuschef Harald Wanger, wird in Hameln ein, „kulturtouristisches Gesamtkonzept“ geplant. Dazu soll zum Beispiel die virtuelle Erlebbarkeit des Rattenfängers gehören, etwa über Augmented Reality.
Ganz real könnte aber auch das Stadtmuseum einbezogen werden. Natürlich: Der Rattenfänger liefert Hameln eine Vorlage, die nicht jede Stadt hat. Immerhin gehört er seit 2014 zum immateriellen Unesco-Kulturerbe, und auch Rats! hat damals zur  Entscheidung beigetragen. Hameln hat durch das Bemühen, sich zeitgemäß mit dem Rattenfänger auseinanderzusetzen, vielleicht einen gewissen Vorsprung. Aber auch an vielen anderen Orten wird nicht nur darüber nachgedacht, sondern auch experimentiert, wie Kultur zur Zukunft der Innenstädte beitragen kann. Um Menschen wieder in die Zentren zu holen, weil sie wissen: „Da findet etwas statt.“ Sagt HMT-Chef Wanger. Und hat dabei nicht nur im Blick, wie Kultur das Wortungetüm Aufenthaltsqualität mit Leben füllt. Sondern auch das Klima zum Beispiel: Wie schafft man es, dass Menschen vor einer Bühne auf einem Platz nicht in der prallen Sonne sitzen? Doch das ist schon wieder ein neues Thema.

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