Wir öffneten eine Tür, und es tat sich eine ganze Welt auf. Die 1920er Jahre sind wie ein Strudel, wie ein Sog, sobald man sich mit ihnen beschäftigt. Oder wie jener Kaninchenbau, in dem hinter jeder Wendung ein neues, faszinierendes Kapital auftaucht. Wir sind in Hannover. Linden, das größte Dorf Preußens, wird 1920 Teil der Stadt. Und bringt den ersten Flugplatz mit, dort, wo an der Grenze zu Ricklingen die Flieger der Hannoverschen Waggonfabrik landeten. Hermann  Dorner war einer der führenden Köpfe der Firma, die eigentlich Straßenbahnen baute und vor ihrem Niedergang nach 1923 auf Augenhöhe mit der Hanomag  gesehen wurde. Dorners Halbbruder Alexander wiederum sollte als Chef des Provinzialmuseums und der Kestner-Gesellschaft Hannover die künstlerische
Moderne bringen.

1921 wurde die Continental 50 Jahre alt. Auf dem Jubiläums- Titel der Werkszeitschrift sitzt ein schwarzer Titan auf den Fabrikgebäuden: Das passt – nicht nur für einen Reifenriesen, sondern auch in die Zeit, die eben noch nicht golden war. Wenig später hieß der Chefredakteur des „Echo Continental“ Erich Maria Remarque. Er verließ Hannover nach der Inflation. Andere hätten’s vielleicht auch gerne gemacht. Theodor Lessing, der Philosoph, blieb, trotz Fernwehs – bis er 1933 gehen musste, vor den Nazis fliehend und dann ermordet. Er beklagte, wie Hannover seit jeher mit ihrem geistigen Erbe umgehe und war erschüttert über die weitreichende Industrialisierung der Stadt. Sein Urteil über Hannover Ende der 20er: „Sie ist ein Paradies der Mittelstädte, des Mittelstandes, der Bemittelten und jeder Mittelmäßigkeit.“

Das Anzeiger-Hochhaus, eines der Hauptwerke des Baumeisters und Architekten Fritz Höger, wurde 1927/1928 für den Verleger des Hannoverschen Anzeigers, August Madsack, in der hannoverschen Innenstadt im Stil des Backsteinexpressionismus errichtet. Es war eines der ersten Hochhäuser im Deutschen Reich. Später wurden darin die Magazine Stern (1948) und Der Spiegel (1947) gegründet. Bis heute haben in dem Gebäude Medienunternehmen ihren Sitz. Foto: Barbara Dörmer

Ob’s stimmt? Manches wuchs auch in die Höhe. Das Anzeiger-Hochhaus reihte sich 1928 in die großen Bauten Deutschlands ein. Viele der Gäste bei der Einweihung am 29. April dürften sich tags zuvor in der IHK Hannover getroffen haben, die ebenfalls ein neues Gebäude bezog. Eine IHK, die über ihren damaligen Hauptgeschäftsführer Kurt Finkenwirth den Gedanken eines Wirtschaftsgebiets Niedersachsen vorantrieb – ein Vierteljahrhundert vor der Gründung des heutigen Bundeslandes. Das Firmenhandbuch Niedersachsen erschien, und ebenso das Wirtschaftsblatt Niedersachsen als unmittelbarer Vorgänger dieses Mediums, der Niedersächsischen Wirtschaft.

Es wurde gebaut, wir sind in der zweiten Hälfte der 20er Jahre: Das waren vielleicht die goldenen. Und sorgte sich um die Außenwirkung: Das Buch „Großstadt im Grünen“ erschien und warb für Hannover. In den 20er Jahren begann sich die Stadt selbst um ihr Image zu kümmern, nachdem sich bis dahin ein Verein darum kümmerte. Das hat die Historikerin Dr. Vanessa Erstmann herausgearbeitet. Und ebenso, dass die Stadt auch Kurt Schwitters einbezog.

Reklamekunst: Das Wort allein beschreibt eine Entwicklung des Jahrzehnts. Hannoversche Markenfirmen galten als Bahnbrecher in der Werbung. Neben Schwitters taucht immer wieder El Lissitzky auf. Die früh verstorbene Änne Koken gilt als eine Vertreterin moderner Werbegrafik aus Hannover – und stand nicht allein. Auch alte Firmen schaffen neue Ausdrucksformen: Dieses Motiv (siehe Foto unten) taucht in einem Buch auf, das wohl 1928 erschien – auf 400 Seiten Industrie, Handel, Handwerk. Ein Kaleidoskop, auch mit Blick auf ein schier unglaubliche Fülle an Firmengebäuden. Auch das Anzeiger-Hochhaus ist schon drin.

Aufbruch im Ausdruck: Dafür steht Hannover

Also: Hinter jeder Wendung ein neues Kapitel: Da taucht aus dem Dunkel der Geschichte zum Beispiel Otto Fuß auf. Kohlenhändler, Mitglied der IHK-Vollversammlung – und in den 20er Jahren eine der führenden Persönlichkeiten im deutschen Schach, der offenbar auch Schachprobleme erfand. Die Deutsche Vereinigung für Problemschach erinnert sich seiner. Hannover auch? Und das alles sind nur einzelne Funken, die das Bild einer in großen Teilen versunkenen Welt nicht erhellen können. Sondern nur neugierig machen auf ein Jahrzehnt, das vielleicht vor allem im dunklen Schatten des folgenden steht. Aber in dem es so viel zu entdecken gibt.

 

Hier weitere Beiträge unseres Schwerpunkts 1920er Jahre:

Geldgeschichte(n): Inflation und Hannovers Münzreichtum

Springes Wisentgehege: Gründungsimpuls vor 100 Jahren

Pelikan-Plakate: Wettbewerb nach hundertjähriger Pause

Kestner-Gesellschaft: Zurück zu den Wurzeln – in den 1920ern

Remarque in Hannover: Vor dem Ruhm

 

 

 

 

 

 

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