Seit 2005 sammelt das Niedersächsische Wirtschaftsarchiv historisches Material aus verschiedensten Unternehmen und Einrichtungen. Die Spanne reicht vom Handwerksbetrieb bis zum Großunternehmen. Gedächtnis der Wirtschaft das Landes und Fundament für die historische Aufarbeitung: Das sind die Ziele.

 

Irgendwann 1919 war alles fertig, um in Hannover Passagierflugzeuge zu bauen. Oder, um genau zu sein, in Linden. Ein Dreidecker, ungewöhnlich genug, mit einer luxuriösen Kabine für mindestens vier Reisende flog über der Stadt. Die Hannoversche Waggonfabrik, kurz Hawa, hatte noch mehr Entwürfe in der Schublade. Es gab sogar eine Verkaufsbroschüre.

Die erst 20 Jahre alte Hawa war insbesondere während des 1. Weltkriegs schnell auf rund 3000 Mitarbeitende gewachsen, baute Eisenbahnwaggons und Straßenbahnen, die bis ins heutige Indonesien exportiert wurden. Außerdem Landmaschinen, Elektroautos – und eben Flugzeuge. Darunter den weltweit ersten leistungsfähigen Segelflieger, denn Motorflugzeuge durften in Deutschland ab Ende 1919 nicht mehr gebaut werden. Der Hawa-Dreidecker wurde verschrottet.

Mit der Inflation 1923 begann der Niedergang des Unternehmens, 1933 war Schluss. Technik-Enthusiasten kennen die Hawa-Entwicklungen. Das reicht bis Neuseeland, bis zum Herrn-der-Ringe-Regisseur Peter Jackson. Aber obwohl noch Fabrik- und Verwaltungsgebäude stehen, ist die Hannoversche Waggonfabrik aus dem Bewusstsein der Stadt weitgehend verschwunden.

Wider die Erinnerungslücken

Solche Erinnerungslücken möglichst zu verhindern, gehört zu den Zielen des Niedersächsischen Wirtschaftsarchivs. Archiv: Ein Begriff, mit dem sich nur schwer punkten lässt. Mit dem Beiklang des notwendigen, für manche auch des nicht notwendigen Übels. Natürlich: „Unternehmen sind darauf bedacht, Werte zu schaffen“, sagt Dr. Brage Bei der Wieden, der Leiter des Wirtschaftsarchivs. Und das im Hier und Jetzt. Aber, auch das sagt Bei der Wieden, ein unternehmerisches Lebenswerk, das sei doch mehr als nur die Schlussbilanz.

Oder mehr als das, was nach einem Verkauf – oder einer In[1]solvenz – bleibt. Und gerade dann werden Dokumente und Dinge aus dem Bestand eines Unternehmens in alle Winde verstreut. Es gilt, die Erinnerung zu bewahren: an Firmen, an Unternehmerinnen und Unternehmer. Damit sie nicht sang- und klanglos ins Vergessen abtauchen. Wer kennt denn noch die Hannoversche Waggonfabrik, wenn selbst die Hanomag für viele Jüngere selbst in Hannover kein Begriff mehr ist?

Für die Identität

Aber doch ist Wirtschaft, sind Unternehmen wesentlicher Teil der Geschichte einer Stadt oder einer ganzen Region: „Identitätsbildend“, betont Brage Bei der Wieden. Die Grundlage für alles ist sammeln, und zwar möglichst viel. Aber das keineswegs als Selbstzweck. Das zieht sich durch, wenn der Leiter des Wirtschaftsarchivs über die 2005 in Wolfenbüttel gegründete Einrichtung spricht: Historisch bedeutsames Material dauerhaft zu erhalten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, eine Grundlage zu schaffen, um die Wirtschaftsgeschichte zu erforschen: Darum geht es.

Rund einen Regal-Kilometer füllt das Material bislang, mit 114 Beständen – und hinter jedem Bestand steckt in der Regel eine Firma. Gerade wurde das Archiv der Nordzucker AG in Braunschweig übernommen und damit Material aus der in weiten Teilen Niedersachsens so wichtigen Zuckerindustrie. Der älteste Bestand, die Porzellanmanufaktur Fürstenberg, reicht bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurück.

Besonders hervor hebt der Archiv-Chef die Braunschweigische Koh[1]len-Bergwerk AG: „Wesentliche Teile des Bestandes haben wir.“ Und was wird am meisten eingesehen? Das Archivmaterial der Reichswerke Hermann Göring, die 1941 von Berlin nach Salzgitter zogen.

Aber, und das betont der Bei der Wieden ausdrücklich, nicht nur die großen, sondern jedes Unternehmen kann sich an das Wirtschaftsarchiv wenden. So gibt es in den Regalen auch Bestände von Handwerksfirmen. Natürlich: Geschäftsbücher, Jahresabschlüsse oder auch Protokolle sind das Rückgrat des Archivmaterials. Bei der Wieden zieht jedoch den Kreis weiter: „Was für das Unternehmen wichtig ist, das ist auch für uns wichtig.“ Also nicht nur Geschichte, sondern auch Geschichten gehören zu dem, was das Archiv sammelt – und zwar ausdrücklich auch die Geschichten des Scheiterns.

Archiv oder Museum?

Dabei gilt die Faustregel: Dokumente, also Papier, gehören ins Archiv. Gegenstände aus der Unternehmensgeschichte sind etwas für Museen. Und Fotos liegen irgendwo dazwischen: Es gibt in Wolfenbüttel Fotobestände, aber zum Beispiel verfügt auch das Historische Museum in Hannover über einen umfangreichen Fotobestand, auch zu Wirtschaftsthemen. Unternehmen können dabei individuell festlegen, welche Unterlagen ab wann öffentlich zugänglich sein sollen. Manche sagen, dass es in Niedersachsen noch einigen Nachholbedarf gibt im Umgang mit der Wirtschaftsgeschichte. Tatsächlich ist das Wolfenbütteler Archiv noch keine 20 Jahre alt. Das Rheinisch-Westfälische Wirtschaftsarchiv in Köln dagegen wurde bereits 1906 gegründet. Es bezeichnet sich heute ausdrücklich als „Rettungsstation“ für historisch bedeutendes Schriftgut der Wirtschaft. Werbeanzeige mit Unternehmensbeschreibung – und heute ein fast vergessenes Stück hannoverscher Wirtschaftsgeschichte.

Blick ins Rheinland und nach Westfalen

Und in Nordrhein-Westfalen gibt es gleich noch eine zweite Einrichtung, das Westfälische Wirtschaftsarchiv in Dortmund von 1941. In aller Regel standen Industrie- und Handelskammern Pate und tragen oft die Archive. Auch die Vereinigung der Wirtschaftsarchivarinnen und Wirtschaftsarchivare wurde 1957 in der IHK Dortmund aus der Taufe gehoben. In den 1990er Jahren entstanden eine Reihe weiterer Archive. Niedersachsen brauchte etwas mehr Anlauf, bis das Wirtschaftsarchiv gegründet war – als Stiftung bürgerlichen Rechts, die vom Land Niedersachsen, der Nord/LB, der Öffentlichen Versicherung Braunschweig und der IHK Braunschweig getragen wird. Allzu lange gibt es ein Wirtschaftsarchiv in Niedersachsen also noch nicht. Aber zum Glück findet man auch anderen Orts Material aus der Wirtschaftsgeschichte des Landes: in den Unternehmen natürlich. So hat die Continental AG zum 150-jährigen Bestehen begonnen, ihr Archiv aufzuarbeiten. Das Archiv von Hannover 96 wurde 2016 als Wirtschaftsarchiv des Jahres ausgezeichnet. Und Bestände der Hannoverschen Waggonfabrik liegen zum Beispiel im Deutschen Museum in München. Weit weg, aber immerhin.

 

Info: Niedersächsisches Wirtschaftsarchiv Die Stiftung Niedersächsisches Wirtschaftsarchiv hat ihren Sitz im Gebäude der Abteilung Wolfenbüttel des Niedersächsischen Landesarchivs. Die 2005 gegründete Einrichtung soll das historisch wertvolle Schriftgut der Wirtschaft in Niedersachsen sichern, erschließen und der Forschung verfügbar machen. Das Archiv ist offen für Anfragen von niedersächsischen Unternehmen aller Größen und Branchen. www.ndswa.de

 

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